top of page
muscon_Logo1

Guerilla Kultur - Die Rückeroberung des Alltags

Aktualisiert: 4. Mai 2021

Der Wahl-Vorarlberger Franz Kuttelwascher etablierte sich als Koryphäe für Marketing, Kommunikation und Grafik in weitreichenden Kreisen. In seinen eigenen Worten geht es bei "seiner" Guerilla-Philosphie um das Überwinden von Denk- und Handlungsmustern, um das Managen des Unvorstellbaren, um das Begreifen von Revolution als tägliche Übung. Kuttelwascher wagt immer wieder den Blick über den Tellerrand und schrieb nun für muscon einige seiner Gedanken nieder. Mehr von Franz Kuttelwascher unter www.guerilla-elements.com


guerilla-kultur - die rückeroberung des alltags


bei meinen guerilla-marketing-seminaren werde ich meist nach der quintessenz der guerilla-philosophie gefragt, nach einer knackigen formel, die in wenigen worten den unterschied zwischen guerilla-marketing und konventionellem marketing beschreibt. doch wenn ich diese dann auftische, schlucken jene, die die bedeutung der worte begreifen, dann jedesmal. denn diese formel beinhaltet, dass ich mich selbst verändern muss, um veränderung zu bewirken. und genau das haben wir (da nehme ich mich selbst gar nicht aus) verlernt. wir sind allesamt kleine feiglinge geworden - wie fette maden, die im speck unserer kapitalistischen wohlstandsgesellschaft leben und vom aufbruch zur existenz als fliege (noch) nichts wissen wollen. aber irgendwann müssen wir raus und den nächsten kuhfladen suchen, um uns zu laben. und es gibt keine garantie mehr, ob wir diesen großen haufen scheiße finden, in dem wir uns wieder sattfressen können. veränderung beinhaltet stets auch die option des scheiterns. die gibt es zwar im vertrauten status quo auch, aber sie ist uns nicht so bewusst. denn noch funktioniert ja das getriebe, aus und in dem wir leben noch ganz prächtig. und das verdrängen des außen - des "drumherum", das unseren wohlstand nährt klappt auch immer noch vorzüglich. bewusst eine veränderung herbeizuführen, sich mit drei segelschiffen zum "abgrund der welt" aufzumachen, auch wenn alle einem den untergang prophezeihen, das braucht schon wirklich eier bzw. eier-stöcke.


der erschreckende satz zur guerilla-denke ist einfach:


guerilla-marketing (bzw. die guerilla-philosphie) ist stets systemverändernd.

konventionelles marketing hingegen ist systemverwendend.


d.h. es genügt nicht mehr, innerhalb der bestehenden rahmenbedingungen eines systems den großen revoluzzer rauszuhängen, denn letztlich bleibt man im genormten denken des lego-baukastens stecken. (wie gesagt: ich nehme mich und meine schlauen sprüche hier keineswegs aus.) und wer wirklich "über den tellerrand" schauen, denken und handeln will, muss zuerst mit ein paar äußerst liebgewonnenen annehmlichkeiten unseres satten, fetten, selbstzufriedenen lebens brechen. ähnlich einem menschen, der seine vertraute lebensgemeinschaft verlässt und jedwede sicherheit, routiniertheit und seichtheit seines lebens von heute auf morgen gegen abenteuer, unsicherheit aber auch gegen das wunderbare gefühl, sich wieder wirklich zu spüren eintauscht. entgegen aller kleinbürgerlichen spießigkeit dem schwanz oder der mumu zu folgen - wie gut tut das.... letztlich auch dem hirn, das endlich mal pause hat. und diesen urlaub genießen wird - zumindest bis zum ersten termin vor dem scheidungsrichter.


so...und jetzt wieder von den hormonen zur kultur. was hat uns diese elendige pandemie in sachen kulturbetrieb gelehrt?


1.

auch wenn wir in unserem subventionierten elfenbeinturm bislang ein sorgenfreies leben geführt haben (und das meine ich ernst - denn in europa muss kein künstler, auch wenn er null engagements hat, weder verhungern noch auf den strich gehen), opfert das system natürlich als allererstes jene bereiche im interesse des selbsterhalts, die für den erhalt der ist-situation als nicht wirklich überlebenswichtig erscheinen. kulturschaffende auf der ganzen welt mussten dies schmerzhaft im letzten jahr (und immer noch) erleben. kultur ist in der wahrnehmung der öffentlichkeit lediglich nette dekoration eines sinnentleerten, konsumgesteuerten dahinvegitierens - zwar im goldenen käfig, aber ohne chance auf "gottwerdung" (meine ganz persönliche übersetzung des begriffs "evolution").


2.

nachdem die mehrheit der kulturschaffenden sich noch stärker an das system gekettet haben und nach unterstützung (primär finanzieller) gerufen haben, dachten ein paar wenige darüber nach, warum kultur als "geist- und herzensbildende" institution keinen stellenwert in unserer gesellschaft mehr hat. sportveranstaltungen (zumindest via tv) und shopping schienen wertvoller für die volksgesundheit zu sein, als ein gutes konzert oder eine theateraufführung. fabriken mussten - zumindest nach dem ersten kollektiven schock im frühjahr 2020 - unbedingt offen gehalten werden. produzierten sie doch die kohle, die das bestehende system befeuert. museen, konzertsäle, theaterbühnen wurden dagegen gnadenlos als nettes, aber nicht überlebenswichtiges beiwerk unseres lebens etikettiert und geschlossen.


3.

warum konnte das system einen teil seiner selbst - die kultur - als entbehrlich darstellen? und wie konnte die elimierung der kultur aus dem alltag so schnell und gründlich funktionieren? weil sich genau dieser kulturbetrieb seit jahrzehnten dem system anbiedert, unterordnet und - bettelnd um subventionen - den spielregeln folgt. aus dem alltag, dem leben hat man sich in schicke exile vertreiben lassen - in museen, konzertsäle, theaterbühnen. und wunderte sich dann, dass die schließung der kultur so einfach funktionierte. ganz klar - man musste nur gebäude abschließen. dann war ruhe.

und die brave bürgerliche kultur hielt still, denn man wollte es sich natürlich mit dem geld-system, das nach der pandemie sicher wieder funktionieren würde, nicht verscherzen.

da es kein proletariat mehr gibt (weder politisch noch gesellschaftlich) gibt es auch keine kultur des proletariats mehr. die millionen von ich-ag's gehen brav ihrer arbeit nach. das räderwerk funktioniert weiter - auch in einer weltweiten pandemie, auch ohne kultur.


4.

in einem zeitungsartikel las ich, dass covid19 nicht die krankheit ist sondern eigentlich nur das symptom einer seit langem im siechtum liegenden gesellschaft. künstler waren einmal die avantgarde der gesellschaft, die mutigen revolulionäre, die vordenker und übersetzer wagemutiger utopien. und als revolutionär sollte man - wie mao tsedong (guerilla-kämpfer, staatslenker und massenmörder aus china) einmal sagte "im volk beheimat sein wie ein fisch im wasser". wie kann das kultur wieder werden - "im volk beheimatet sein"? nicht als verdummungsmasche im mutantenstadel sondern als echter, wichtiger bestandteil des ganz banalen, alltäglichen lebens?


5.

wir sind die ratten der gesellschaft - und müssen raus aus den häusern. das futter liegt auf der straße. wo sind die cd-verkaufsständer mit ausschließlich vorarlberger künstlern im ländle-supermarkt? warum wird im bus, in der s-bahn oder im spar um die ecke nicht ab und zu musik heimischer interpreten gespielt oder aus gedichten und romanen zitiert (so wie es in den zigarrenfabriken in kuba die berühmten vorleser*innen tun)? lediglich im hinteren bereich des bahnsteigs 1 in dornbirn wird man mit klassischer musik beschallt - allerdings eher aus de-eskalationsgründen oder um "bestimmte gruppen zu vertreiben", wie es z.b. in der begründung der musikbeschallung im hamburger hauptbahnhof heißt. "menschen mit musik vertreiben?" - so weit ist es also gekommen. warum gibt es in den fabrikshallen "jausensemmel-automaten" aber kein futter für seele und geist (bücherregale)? warum hängen künstler ihre bilder immer noch lieber in gallerien auf anstatt in gasthäusern, wo die menschen (zumindest nach der pandemie) wieder zusammenkommen? warum wird man als hausbesitzer gesetzlich genötigt, autoabstellplätze auf seinem grundstück vorzusehen (auch wenn man gar keines besitzt) anstatt pro hundert quadratmeter grund einen quadratmeter der kunst widmen zu müssen? warum ist es einfacher, die behördliche genehmigung für eine kirchliche prozession (oder eine anti-corona-demo) durchs dorf zu bekommen als für einen gig am dorfplatz? warum werden musische stunden an schulen zusammengestrichen? stattdessen fördert man mit der etablierung von "musik-mittelschulen" etc. dann lieber wieder die elite-bildung, denn kultur ist scheinbar etwas für wenige hochbegabte geworden - die masse braucht das scheinbar nicht. wo sind die grauen betonwände (die es auch im subr' ländle gibt), die für verschönung durch graffities und paste-up's offiziell freigegeben werden? wo sind die gitarren-schulternden wachrüttler, die mich auf der straße mit ihren protestliedern anbäffen (anstatt zuhause am digitalen streaming-konzert zu basteln und/oder auf die nächste subvention zu warten)? vor jahrzehnten überraschten mich als provinzei die auftritte der straßenmusiker in der pariser u-bahn. nicht unbedingt gute musik, aber immer ganz nah dran an den menschen. in vorarlberg dürfen sich unsere heimischen musiker schon glücklich schätzen, wenn einmal pro woche im staatssender eine stunde lokal-colorit über den äther geht. gefühlte 99% der restlichen sendezeit nimmt dann allerdings wieder massentauglicher us-musik-import und werbung ein. man ist in vorarlberg zu recht stolz auf die leistungen in diesem überschaubaren bundesland - von den wirtschaftlichen erfolgsstorys bis zu den vielen phantastischen musikern und anderen kulturschaffenden. doch im alltag - so scheint es mir - ist der viel zitierte prophet im eigenen land dann doch nichts wert. ein kollektiver minderwertigkeitskomplex treibt uns dazu, uns ständig für unsere leistungen selbst auf die schultern zu klopfen. doch wer sich dauernd selbst auf die schultern klopft, hat bekanntlich keine hand frei, um wirklich etwas neues anzupacken.


ein herrliches beispiel von alltags-kunst (zwar funktionalisiert aber wenigstens real), sind die bushaltestellen in der kleinen vorderwälder gemeinde krumbach. dem aufruf, die notwendigen neuen wartehäuschen zu gestalten, folgten namhafte architekten aus der ganzen welt, weil es ihnen wahrscheinlich ein bedürfnis war, dem echten alltäglichen leben wieder etwas zurückzugeben. so entstanden spannende kleine bauwerke, die nicht nur krumbach weltweite aufmerksamkeit bescherten sondern auch im dorf selbst einen wachen diskurs über formen und funktionen im öffentlichen raum entfachten.


lange rede kurzer sinn: es ist nicht die primäre aufgabe der kultur, den status quo einer lethargischen gesellschaft zu behübschen sondern ihr den marsch zu blasen - womit wir bei der bedeutung des bildmotivs oben wären (ein paste-up, das ich auf tenerife realisiert habe).

Das making-of dazu gibt's hier zu sehen und zu lesen: https://www.guerilla-elements.com/blog/kutteln/saure-kutteln/art-against-violence


und damit das alles nicht nur hohles geschwätz einer ebenfalls im speck lebenden fetten made bleibt, werde ich zu ostern auf der pipeline zwischen bregenz und lochau mal ein bisschen zeitgenössische literatur sprichwörtlich "unters" volk bringen. so bald ein konkretes datum steht, werde ich über die plattform muscon musiker einladen, diese aktion zu unterstützen.


es grüßt euch aus dem unterholz. der freizeit-guerilla franz.


Photo © Franz Kuttelwascher

Hinweis: Der Inhalt dieses Blogposts / Gastkommentars / Interviews muss nicht die Meinung des Kulturverein muscon widerspiegeln.

bottom of page